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Franz Liszt

1811-1886

Via Crucis

 

Franz Liszt
geboren am 22. Oktober 1811 in Raiding (Burgenland)
gestorben am 31. Juli 1886 in Bayreuth

Via Crucis

Liszt war immer ein gläubiger, für Mystik empfänglicher Katholik, nicht erst, als er 1865 in Rom zum Abbé geweiht wurde. Als Dreiundzwanzigjähriger schrieb er bereits einen Essay „Über eine zukünftige Kirchenmusik“, seine letzten drei Lebensjahrzehnte widmete er fast ausschließlich der geistlichen Musik.
In seinen Schriften wehrte er sich entschieden gegen die rückwärtsgewandten Tendenzen des Cäcilianismus, der sein Vorbild im Palestrina-Stil fand. Mit seiner Orchestermusik stand er für die „Zukunftsmusik“, auch seine geistliche Musik sollte der Zukunft zugewandt sein. Überraschenderweise bezieht er in seinem Alterswerk „Via crucis“ alte Stile (gregorianischen und protestantischen Choral) ein und mischt mit sparsamen Mitteln, wenigen Noten, jeder Virtuosität fern einen ganz eigenen Stil, der in seiner Kargheit in der Spätromantik durchaus avantgardistisch ist. Von seinen Zeitgenossen wurde das Werk so wenig verstanden, daß es erst fünfzig Jahre nach seiner Vollendung am Karfreitag 1929 in Budapest zur Uraufführung kam. Auch alle Versuche, seinen Verleger Pustet in Regensburg zur Veröffentlichung zu bewegen waren vergeblich, obwohl Liszt auf ein Honorar verzichten wollte, da ihm die Sache offenbar sehr am Herzen lag und er sich sogar um die graphische Gestaltung der Ausgabe kümmern wollte, für die er sich ausdrücklich Albrecht Dürers Holzschnitte der Passion wünschte.
Das 1878/79 in Rom und Budapest entstandene Werk ist in vieler Hinsicht einzigartig. Spielt der Kreuzweg für die Gläubigen auch eine große Rolle (darf doch in keiner katholischen Kirche eine bildliche oder figürliche Darstellung des Kreuzweges fehlen), so hat er, anders als der biblische Passionsbericht, keine musikalischen Umsetzungen gefunden. Liszt ist der erste und wohl einzige Komponist, der eine vokale Fassung des Kreuzweges geschaffen hat. Die Texte stellte er selber aus verschiedenen Quellen zusammen: aus gregorianischen Chorälen, den Evangelien, dem Stabat Mater und protestantischen Chorälen. Der Choral „O Haupt voll Blut und Wunden“ klingt, als habe Liszt ihn unverändert aus Bachs Matthäus-Passion übernommen. Überraschenderweise stammt aber keine einzige Note von Bach: Liszt war ein großer musikalischer Verwandlungskünstler. Für manche Kreuzwegstationen verwendet er gar keinen Text und läßt nur das Instrument sprechen.
Es sind nicht nur viele musikalische Stile und Textschichten, die Liszt verwendet. Alte Kirchentonarten stehen neben der „Zigeunertonleiter“ des gebürtigen Ungarn. Er mischt deutsche und lateinische Texten ebenso wie instrumentale und vokale Teile. Schließlich überläßt er den Interpeten auch noch die Entscheidung, ob sie den Gesang chorisch oder solistisch ausführen, ob die Begleitung von der Orgel, vom Klavier oder vom Harmonium übernommen wird, und läßt sogar eine rein instrumentale Aufführung zu. Das gesamte Werk entzieht sich einer eindeutigen Fest-legung. Ist es Begleitmusik zu einer Kreuzwegandacht im Kolosseum in Rom, wie Liszt es in sei-nem Vorwort skizziert? Ist es die Beschreibung einer solchen Andacht, oder ist es eine Meditation über den Kreuzweg?
Ob der Komponist etwa nicht weiß, was er eigentlich will? Dieser Eindruck täuscht. Nur an der Oberfläche ist es ein heterogenes Werk. Es geht Liszt nicht um primär musikalische bildhafte Darstellung, dafür hatte der Tastenzauberer ganz andere Mittel. Ihm geht es um die Meditation über das Leiden Jesu, das Ringen um dem Glauben. Alle heterogenen Mittel, alle sparsamen, bewußt unvirtuosen Töne, die kargen Klänge an den Grenzen der Tonalität wollen nichts anderes bewirken als die Versenkung in die Geheimnisse des Kreuzweges.

JOACHIM RISCH