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Dietrich Buxtehude

1637-1707

Membra Jesu nostri (BuxWV 75)

Konzertkritiken:
Kölnische Rundschau
Bergische Morgenpost

 

Dietrich Buxtehude
geboren um 1637 in Oldesloe(?) oder Helsingborg(?)
gestorben am 9. Mai 1707 in Lübeck

Membra Jesu nostri patientis sanctissima
Die allerheiligsten Gliedmaßen unseres den Tod am Kreuz erleidenden Jesus

BuxWV 75

Musik bedarf keiner Worte. Musiker komponieren für das Ohr ihrer Hörer. Und das Ohr braucht bei einem Werk wie Buxtehudes Membra Jesu Nostri keine Hilfe. Innerlichkeit und Inbrunst dieser Musik haben Erläuterungen nicht nötig.

Und doch möchten wir über Musik, die uns anspricht, gerne mehr wissen, vor allem, wenn sie sich mit dem Wort verbindet. Die Frage zu beantworten, weshalb uns dieses Werk so anspricht, ist aber erheblich schwieriger als es zu hören.

Das liegt auch daran, daß es uns der Mensch Buxtehude schwer macht: Er hat der Nachwelt keine persönlichen Äußerungen hinterlassen, keine Einblicke in seinen Schaffensprozeß gegeben. Sein Denken, sein Fühlen, seine Motive – nichts darüber hat er uns mitgeteilt. Wir wissen nicht, für welchen Anlaß er Membra Jesu nostri geschrieben hat, wir wissen nicht, wie er zu dieser besonderen Textauswahl kam, die auch eine ganz individuelle musikalische Form nach sich zieht. Wir wissen nicht einmal sicher, ob das Werk überhaupt zu seinen Lebzeiten aufgeführt wurde.

Buxtehude war die längste Zeit seines Lebens Organist an der evangelischen Marienkirche in Lübeck. Seiner und der nachfolgenden Generation galt er als überragender Organist und Orgelkomponist. Durch die Abschriften seiner Bewunderer sind viele Orgelwerke auf uns gekommen. Von seinem Vokalwerk wäre ohne die Sammlung und die Abschriften seines Freundes Gustav Düben, des schwedischen Hofkapellmeisters, kaum etwas erhalten. Dokumente gibt es wenig von ihm, ein paar Briefe an Sponsoren seiner weithin berühmten Abendmusiken an St. Marien, nüchterne Aktenvermerke. Neben seinem Organistenamt war er auch Werkmeister an St. Marien, eine Art Verwalter. In dieser Funktion kümmerte er sich sorgfältig darum, daß in der Kirche alles in Ordnung war, daß alle Gelder pünktlich ausgezahlt und korrekt verbucht wurden.

In den erhaltenen Dokumenten hielt man sein Amt als Werkmeister für wichtiger als das des Organisten. Persönliche Aufzeichnungen, Briefe oder Überlieferungen gibt es nicht. Allein seine Musik spricht zu uns.
So verschwimmt seine Person im Halbdunkel der Vergangenheit. Wir können uns kein Bild von ihm machen, und bis vor kurzem war auch kein Bild von ihm bekannt. Erst vor wenigen Jahren wurde Buxtehude auf einem Gemälde von Johannes Voorheut im Museum für Hamburgische Geschichte identifiziert. So hätte man ihn sich allerdings am wenigsten vorgestellt – als barocken Lebemann, gekleidet in feine Stoffe. Das Gemälde läßt an geistreiche musikalische Unterhaltung denken, an Tanzmusik – sollte er sie geschrieben haben, so ist sie verloren gegangen.

Zu unserem Glück ist die Musik zu Membra Jesu Nostri vollständig überliefert, dank Gustav Düben, dem das Werk von 1680 auch gewidmet ist. Es gehört unter den erhaltenen Vokalwerken Buxtehudes zu den bedeutendsten, aber es gibt uns Rätsel auf. Ungewöhnlich sind Text und Anlage, unklar ist seine Bestimmung.

Es handelt sich um einen Zyklus von sieben Kantaten mit Betrachtungen über sieben Gliedmaßen Jesu am Kreuz. Der Text ist ein Auszug aus der Rhythmica oratio, die lange unter dem Namen Bernhards von Clairvaux überliefert wurden. Heute vermutet man Arnulph von Löwen als den wirklichen Autor. Erstaunlich, daß der Protestant Buxtehude einen schwärmerisch-mystischen lateinischen Text des Mittelalters vertont, aber dieser Text wurde seinerzeit mehrfach von Protestanten übersetzt, unter anderem von Paul Gerhardt. Aus dem Text der siebten Kantate Ad faciem: Salve, caput cruentatum, totum spinis coronatum schuf Gerhardt in seiner Übersetzung das berühmte Lied O Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz und voller Hohn, o Haupt zu Spott gebunden mit einer Dornenkron, das wir ja auch aus Bachs Matthäus-Passion kennen. In dieser Zeit entwickelte sich in der protestantischen Kirche eine neue Innerlichkeit, die in ihrer schwärmerischen Inbrunst manchem mittelalterlichen Mystiker nahe war. Viele Dichter verbanden die Liebe zum Erlöser, die nicht selten in einer quasi erotischen Sprache ausgedrückt wurde, mit einer Todessehnsucht, die aus der Identifikation mit dem Leiden des Erlösers erwächst. Die Doppelbedeutung des Wortes Passion als »Leiden« und als »Leidenschaft« wird ausgekostet.

Die Anzahl der sieben Kantaten ist sicher mit Bedacht gewählt, sie erinnert an die Sieben Worte des Erlösers am Kreuz. Buxtehude verwendet die Zahl sieben auch in anderen Kompositionen (Die Natur oder die Eigenschaft der Planeten). Alle Kantaten haben einen vergleichbaren Aufbau: Nach einer instrumentalen Einleitung folgt eine als Chorsatz oder Terzett gesetzte Vertonung eines Bibelwortes. Danach folgen drei Strophen der Rhythmica oratio in Form von Arien oder Solistenensembles. Meist bauen sie auf der gleichen Baßstimme auf und werden durch instrumentale Zwischenspiele verbunden. Am Schluß wird der Eingangschor wiederholt. Nur die letzte Kantate ersetzt diese Wiederholung durch einen großen Amen-Chor.

Wer die einleitenden Bibelworte zusammengestellt hat, wissen wir nicht. Meist wird in ihnen der Körperteil genannt, der der Kantate den Titel gibt. Obwohl es um die Leidensgeschichte geht, sind alle Bibelworte mit Ausnahme dem der fünften Kantate dem Alten Testament entnommen. Die fünfte Kantate, die den Titel Ad pectus (An die Brust) trägt, beschreibt die Brust nicht nur als Körperteil Jesu, sondern auch als Sinnbild für den Sitz der göttlichen Liebe und schließlich auch als nährende weibliche Brust. Die Vielschichtigkeit der Bilder läßt sich nicht auf einen Blick erfassen, sie regt zur Meditation an. Den inbrünstig-sinnlichen Charakter unterstreichen die Bibelworte der Kantaten IV und VI, die dem Hohen Lied entnommen sind und keinen direkten Bezug zu den nachfolgenden Strophen der Rhythmica oratio haben.

Dieser sinnliche und besinnliche Charakter findet sich vollkommen im Stil der Vertonung wieder. Buxtehude greift selten die Bilder des Textes auf. Die barocke Affektenlehre und rhetorische Regeln, wie wir sie aus Vokalkomposition etwa von Heinrich Schütz oder Johann Sebastian Bach kennen, spielen hier so gut wie keine Rolle. Es ist der Geist der Strophen, den er aufgreift. Manchmal ist die Musik zwar voller Dissonanzen, diese drücken aber weniger den Schmerz des sterbenden Erlösers am Kreuz aus als die Glaubens-Lust der Gläubigen.

Die Gefühle der Menschen sind nicht so schnellen Veränderungen unterworfen wie ihre Gedanken und Worte. So sind die Texte der Rhythmica oratio im Laufe der Jahrhunderte den meisten Menschen immer fremder geworden. Die Musik aber, zu der sie Buxtehude inspiriert hat, hat immer noch die Kraft, intensive Gefühle beim Zuhörer hervorzurufen – Gefühle, für die den meisten die passenden Worte fehlen, aber deren beruhigende Innerlichkeit auch die Sehnsüchte unserer Zeit widerspiegelt.

Joachim Risch