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Antonio Vivaldi

1678-1741

Gloria RV 589
Magnificat
In exitu Israel
Beatus vir

 

Antonio Vivaldi
geboren am 4. März 1678 in Venedig
gestorben im Juli 1741 in Wien (beerdigt 28.7.)

Bei dem Namen Vivaldi denkt man unweigerlich an die Vier Jahreszeiten. Das eine oder andere der schier unübersehbaren Zahl von Konzerten für Violine oder andere Instrumente wird jeder schon einmal gehört haben. Aber geistliche Musik? Die verbindet kaum jemand mit Vivaldi.
Tatsächlich war es fast zweihundert Jahre vollständig in Vergessenheit geraten, daß Vivaldi auch für die Kirche geschrieben hatte. Erst zu Anfang dieses Jahrhunderts fand sich nach detektivischer Suche in Familienarchiven eine umfangreiche Sammlung von Messesätzen, Kantaten und Motetten. Daß diese Werke genauso hörenswert sind wie die Instrumentalwerke, möchte dieses Programm verdeutlichen.

VIVALDI ALS GEIGER

Vivaldi wurde 1678 in Venedig als Sohn eines geigenden Friseurs geboren. Kurz darauf wurde der Vater nach San Marco in das bedeutendste Orchester der stolzen und kunstsinnigen Republik berufen. Der junge Antonio wird wohl sein Geigenspiel beim Vater gelernt haben. Trotz seiner außerordentlichen Begabung wurde auch er nicht gleich Musiker. Nachdem er zunächst zum Priester geweiht wurde, wechselte er aber bald in den Musikerberuf. Auf seiner Geige war er seinen Zeitgenossen um Längen voraus und wurde schnell über die Grenzen Italiens hinaus berühmt.

"... gegen das ende spielte der Vivaldi ein accompagnement solo, admirabel, woran er zu letzt eine phantasie anhing die mich recht erschrecket, denn dergleichen ohnmöglich so jemahls ist gespielt worden noch kann gespiehlet werden, denn er kahm mit den Fingern nur einen strohhalm breit an den steg daß der bogen keinen platz hatte, und das auf allen 4 saiten mit Fugen und einer geschwindigkeit die unglaublich ist, er suprenierte damit jedermann, allein daß ich sagen soll daß es mich charmirt das kan ich nicht thun weil es nicht so angenehm zu hören, als es künstlich gemachet war."
(Johann Friedrich Armand von Uffenbach, Tagebuch vom 4. Februar 1715)

Als Komponist war er ein Pionier der gerade erst erfundenen Form des Solokonzertes und zeichnete sich durch einen unerhörten rhythmischen Schwung aus. Seine Konzerte wurden ihm - handschriftlich oder gedruckt - aus der Hand gerissen und fanden sich bald in halb Europa wieder.

Nun war es für einen Musiker gar nicht einfach, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Igor Strawinsky haben wir den vielzitierten Satz zu verdanken, Vivaldi habe ein Konzert sechshundertmal komponiert. Der gewiefte Geschäftsmann Strawinsky übersah dabei, daß es im Barock weder Urheberrechte noch GEMA gab. Während Strawinsky an einer einzigen Komposition sechshundertmal verdienen konnte, gab es im Barock nur ein einziges Mal Geld, wenn man einen Käufer für sein Manuskript fand. Für Drucke gab es ohnehin keine Honorare. Einem barocken Komponisten blieb nichts anderes übrig, als ununterbrochen zu komponieren. Vivaldi hatte eine begnadete Fähigkeit zum Schnellschreiben. So wettete er, ein Violinkonzert schneller komponieren zu können, als es der Kopist abschreiben konnte. Auch eine gehörige Geschäftstüchtigkeit war ihm nicht fremd. Er schrieb seine Violinsoli in den nicht zum Druck bestimmten Konzerten so schwer, daß er den Kunden der Abschriften gleichzeitig seinen Geigenunterricht mitverkaufen konnte. Als Opernkomponist übernahm er bald die einträglichere Rolle des Impresarios und schreckte auch nicht davor zurück, seine Geschäftspartner übers Ohr zu hauen.

DAS »OSPEDALE DELLA PIETÀ«

Das Wirkungsfeld, das uns hier vor allem interessiert, war eine venezianische Spezialität: Hier gab es Waisenhäuser für Mädchen, in denen die Zöglinge musikalisch erstklassig ausgebildet wurden. Zu Vivaldis Zeiten hatten die »Ospedali« genannten Waisenhäuser ein so hohes musikalisches Niveau erreicht, daß ihre wöchentlichen Konzerte zu den Attraktionen des venezianischen Musiklebens gehörten. Das größte und berühmteste unter ihnen war das »Pio Ospedale della Pietà«. Die dortige Schulleitung verpflichtete mit Antonio Vivaldi den ersten Geiger der Zeit als Violin- und Bratschenlehrer, ein Zeichen dafür, wie sehr ihr an höchster Qualität gelegen war.

Reisende aus aller Herren Länder, die sich vor allem in der Karnevalszeit in Europas erster Touristenstadt tummelten, strömten neben den Bürgern Venedigs in die Konzerte und priesen die Qualität der Aufführungen in den höchsten Tönen.

»Heute habe ich dir nicht viel zu erzählen, ich war wieder [im Ospedale], wo die Frauenzimmer die Musiken aufführen, sie haben wieder ganz herrlich gesungen, besonders die eine, die ich dir neulich rühmte. Wenn man nur so einen Eindruck im Ohre behalten könnte.«
(Goethe, Italienische Reise)

Orchester und Chor der Pietà mit jeweils etwa 15-20 Mitwirkenden bestanden ausschließlich aus den Zöglingen des Ospedale. Sie sangen und spielten hinter schmiedeeisernen Gittern, durch Tücher vor den neugierigen Blicken des Publikums geschützt. Ob die Neugier damit gedämpft wurde, darf bezweifelt werden. So ist von dem Philosophen Jean Jacques Rousseau überliefert, daß er die Wärter bestach, um einmal hinter das Gitter zu gelangen.
Wer im Ospedale unterrichtete, mußte auch Musik für die wöchentlichen Aufführungen komponieren. Zu unserem Glück war in der Pietà die Stelle des Chorleiters über lange Jahre wegen Krankheit unbesetzt, und Vivaldi übernahm die Vertretung mit allen Verpflichtungen. Dieser Tatsache haben wir wohl den Großteil der erhaltenen geistlichen Musik Vivaldis zu verdanken.

DAS RÄTSEL DER AUFFÜHRUNGSPRAXIS

Die erhaltenen Partituren stellen uns vor bislang ungelöste Rätsel: Niemand weiß, wie die Werke gesungen wurden. Der vierstimmige Chorsatz ist für Sopran, Alt, Tenor und Baß notiert. Nun wissen wir aber, daß genau wie das Orchester auch der Chor nur mit Mädchen und Frauen besetzt war. Noch galt ja die päpstliche Enzyklika, daß Frauen und Männer in der Kirche nicht gemeinsam singen durften. Das führte bekanntlich, da keine Kirche gerne auf vollstimmigen Gesang verzichtete, zu allerhand Kunstgriffen. Knabenchöre waren die eine Lösung, oder aber auch das Kastrieren begabter Knaben zum Erhalt ihrer Sopranstimmen. Während im Rest Europas alle Stimmen von Männern und Knaben gesungen wurden, hat die Musikwissenschaft bis heute keine schlüssige Antwort gefunden, wie in Venedigs Frauenchören die Tenor- und Baßstimmen aufgeführt wurden. Für jede diskutierte Lösung hat man bisher stichhaltige Gegenargumente gefunden.

These 1: Es gab Frauen, die so tiefe Stimmen hatten, daß sie die Tenor- und Baß-Partien übernehmen konnten. Als Hinweis dafür werden Namen von Zöglingen genommen. Die Mädchen wurden üblicherweise nicht mit Nachnamen, sondern mit ihrem Instrument oder ihrer Stimmlage identifiziert: Madalena dal Violin, Ambrosina del tenore, Anneta dal basso. Nun ist noch einigermaßen vorstellbar, daß Frauen Tenorpartien gesungen haben. Aber Baß? Es gibt einen Bericht vom 3. September 1758 über den Tod einer Sängerin eines venezianischen Ospedale, die eine so tiefe Stimme gehabt habe, daß sie Baß singen konnte. Wenn nun eine einzelne Sängerin für diese Fähigkeit berühmt war, wie konnte dann ein ganzer Chor mit Bassistinnen besetzt sein, ohne daß darüber auch nur ein einziges Mal berichtet wurde?

These 2: Die Sängerinnen der Tenor- und Baßpartien haben eine Oktave höher gesungen, wenn es ihnen zu tief wurde. Denkbar ja, aber der Tonsatz Vivaldis spricht dagegen. Es war nämlich nicht so, daß Chorstimmen ständig vom Orchester mitgespielt wurden. Im "Et in terra pax" des Gloria beispielsweise wird der Chorbaß unabhängig von Orchesterbaß geführt und liegt teilweise tiefer als dieser. Eine Oktavierung brächte allerhand Durcheinander.

These 3: Tenor und Baß wurden grundsätzlich eine Oktave höher geführt. Auch dagegen sprechen die obigen Gründe. Oft wären dann der Tenor höher als der Sopran oder der Alt tiefer als der Baß und würden Verwirrung stiften. Warum hat Vivaldi dann nicht gleich einen vierstimmigen Satz für zwei Sopran- und zwei Alt-Stimmen geschrieben, wie es an anderen Ospedali üblich war?

Verblüffend ist auch, daß Vivaldi zwar einige für das Ospedale komponierte Werke für andere Orte, wo sie von Männer- und Knabenstimmen gesungen wurden, überarbeitete, ohne aber dabei den Chorsatz wesentlich zu ändern.

Alle Werke unseres Programmes sind wohl für das Ospedale de la Pietà und seinen Mädchenchor entstanden. Singt man die Werke in gemischter Besetzung mit Männer- und Frauenstimmen, hat man klanglich eine überzeugende Lösung. So ist unsere heutige Aufführung mit gemischtem Chor nicht nur einer geänderten Einstellung des Vatikan zu verdanken und dem Wunsch, die Männer des Chores auch mitsingen zu lassen, sondern hat auch einen musikalischen Sinn. Das Rätsel von Vivaldis Aufführungspraxis bleibt aber ungelöst.

BEATUS VIR
In dieser kurzen Vertonung des 111. Psalmes werden die Verse abwechselnd vom Alt, zwei Solosopranen im Duett und dem Chor gesungen. Das einleitende Unisono gliedert das ganze Werk: Es erscheint als Ritornell vor jedem Vers, bildet oft den Kontrapunkt zu den Gesangsstimmen und schließt das Stück ab. Es strahlt die Kraft und Zuversicht aus, von der der Psalm spricht, und sorgt für den typisch Vivaldi'schen Schwung.

MAGNIFICAT
Das Magnificat liegt in vier verschiedenen Fassungen vor und erlaubt uns damit einen seltenen Einblick in die Bearbeitungsweise Vivaldis. Wir führen die vor 1717 entstandene Erstfassung auf. Das Magnificat ist in neun einzelne Sätze für Soli und Chor gegliedert. Die Solisten treten nie einzeln, sondern zu zweit, zu dritt oder mit Chor auf. Der bedeutendste Satz ist das hoch expressive "Et misericordia" mit für seine Zeit ungewöhnlichen Dissonanzen und Sprüngen. Das "Fecit potentiam" und besonders das "Deposuit" im Unisono von Chor und Orchester sind Beispiele für Vivaldis bildhafte, unmittelbar eingängige Tonsprache. Vivaldi schafft einen Rahmen für das ganze Werk, indem er im "Gloria patri" die Musik des Eingangssatzes aufgreift und mit der schwungvollen Fuge "In saecula saeculorum" abschließt.

IN EXITU ISRAEL
1739 komponierte Vivaldi den 113. Psalm vom Auszug Israels aus Ägypten. Die fortlaufende homophone Vertonung des umfangreichen Textes erinnert an das Psalmodieren der Gregorianik. Auch zwei kurze Wechselgesänge zwischen dem Sopran als Vorsänger und dem restlichen Chor klingen wie eine Reminiszenz an ältere Kirchenmusik. Aber weit entfernt von deren kontemplativer Ruhe sind der Schwung und das hohe Tempo, umspielt von einem kurzen rhythmischen Dreiklangsmotiv in den beiden Violinen.

GLORIA D-DUR
Das Gloria ist das bekannteste unter Vivaldis geistlichen Werken. Es ist 1713 als abgeschlossene Komposition, nicht als Teil einer Messe, entstanden. Das prächtige Werk umfaßt zwölf Sätze, meist für Chor, dazwischen auch mit Soli für Alt und zwei Soprane. Schon der Eingangschor stimmt mit seiner Solotrompete auf ein glanzvolles Werk ein. Musikalischer Höhepunkt ist der kunstvolle Chorsatz "Et in terra pax" mit ausdrucksvollen Dissonanzen und dem davon unabhängigen vorwärtstreibenden Orchester. Im "Domine Deus" singt der Alt im Wechselgesang mit dem Chor, der "Qui tollis peccata mundi" einwirft. Im "Quoniam tu solus sanctus" wird, ähnlich wie im Magnificat, das Motiv des Eingangschores wieder aufgegriffen. Das Werk endet mit einer "Cum sancto spiritu"- Fuge, die Vivaldi von seinem Zeitgenossen Giovanni Maria Ruggieri entlehnte.

© Joachim Risch, 1996