Gioachino Rossini

1792-1868

Petite Messe Solennelle
für Soli, Chor, Klavier und Harmonium

Gabriela Eibenová (Sopran), Uta Christina Georg (Alt), Andreas Fischer (Tenor), Bernhard Hüsgen (Baß), Elzbieta Kalvelage (Klavier), Donatus Haus (Harmonium), COLLEGIUM CANTORUM KÖLN, Ltg. Thomas Gebhardt

Samstag, 2. Oktober 1999 · 20.00 h
St. Aposteln, Köln · Apostelnstraße (am Neumarkt)

Sonntag, 3. Oktober 1999 · 17.00 h
Lutherkirche Südstadt, Köln · Martin-Luther-Platz (Nähe Chlodwigplatz)

Ein Mitschnitt dieses Konzerts ist auf CD erhältlich

Gioachino Rossini
geboren am 29. Februar 1792 in Pesaro
gestorben am 13. November 1868 in Paris-Passy

Rossinis letzte Alterssünde

Wer den Namen Rossini hört, denkt an zweierlei: An Opern und an Schlemmerrezepte. Die vielen Anekdoten und Legenden, die sich um ihn ranken, erzählen, daß er auf dem Höhepunkt seiner Karriere, noch als junger Mann, mit dem Komponieren aufhörte und den Rest seines langen Lebens damit verbrachte, erlesene Speisen zuzubereiten und geistreiche Bonmots zu äußern. Ganz falsch ist dieses Bild nicht, aber auch nur ein Teil der Wahrheit. Rossini hat sich gerne hinter dem Bild des geistreichen Genießers versteckt - und da steckt er auch heute noch. Seine Persönlichkeit ist zur Unkenntlichkeit verzeichnet, seine Werke sind, abgesehen von Il barbiere di Siviglia und einigen schmissigen Ouvertüren, kaum bekannt. Das hat er nicht verdient, er, der zu Lebzeiten europaweit vergöttert wurde wie kein Musiker vor ihm.
Wer die Petite messe solennelle genießen will, muß hinter die Legenden schauen. Was bleibt, ist die einschneidende Tatsache, daß Rossini 1829, mit nur 37 Jahren, die letzte seiner rund 40 Opern komponierte, den Guillaume Tell. Der Oper blieb er jedoch vielfältig verbunden als musikalischer Leiter, Organisator, Geschäftsmann, Lehrer und Förderer des Nachwuchses. Seine Aktivitäten ließen aber im Laufe der Jahre nach, bis er sich fast nur noch mit seiner Gesundheit beschäftigte: Eine in jungen Jahren zugezogene Geschlechtskrankheit machte ihm arg zu schaffen. Aus den Äußerungen dieser Zeit spricht nicht der heitere Genießer, sondern der stets unzufriedene Zyniker. Erst als alter Mann wurde er wieder umgänglicher und aktiver. In seinen letzten Lebensjahren entstand noch eine große Zahl von Kompositionen. Sie richteten sich aber nicht mehr an die Öffentlichkeit, sondern an Freunde und Besucher seines Salons, die bei den berühmten Samstags-Soireen seine neuesten kulinarischen und musikalischen Kreationen genießen durften. Darunter waren Vokalwerke und Klavierstücke mit witzigen Titeln wie Etude asthmatique oder Hors d'Oeuvre - ein Zyklus, der verschiedene Vorspeisen beschreibt. Er faßte diese Werke in Reihen unter dem Titel Péchés de Vieillesse, "Sünden des Alters", zusammen.
Als "letzte Todsünde meines Alters" bezeichnete er die Petite messe solennelle ("Kleine feierliche Messe"), die er 1863 als mittlerweile Einundsiebzigjähriger schrieb. Auch dieser Titel ist ironisch gemeint, denn klein ist die Messe nur in der Besetzung (Soli, Chor und die ungewöhnliche Begleitung von Klavier und Harmonium), nicht aber in Ausdehnung und Anspruch. Wer bei dem Titel an den tiefen Ernst von Beethovens Missa solemnis denkt, ist mit Erfolg in die Irre geleitet worden. Aus Rossinis Messe spricht vielmehr eine lebensfrohe südländische Religiosität. Auch in den (nicht für die Öffentlichkeit bestimmten) Beitexten im Autograph der Messe wimmelt es von Ironie und Selbstironie, hinter denen Rossinis wahre Absichten nur schwer erkennbar sind:

Zwölf Sänger der drei Geschlechter Männer, Frauen und Kastraten werden zur Aufführung genügen, also acht für den Chor, vier für die Soli, im ganzen 12 Cherubim. Gott verzeihe mir die folgende Zusammenstellung. Zwölf sind auch die Apostel in der berühmten Freßszene, die Leonardo als Fresko gemalt hat, das sogenannte Letzte Abendmahl; wer sollte es glauben! es gibt unter deinen Jüngern welche, die falsche Noten singen!! Herr, beruhige dich, ich versichere, bei meinem Mahl wird es keinen Judas geben, und die Meinen werden richtig und con amore dein Lob und diese kleine Komposition singen, die leider die letzte Todsünde meines Alter ist.
[Nachwort:] Lieber Gott - voilà, da ist die arme kleine Messe beendet. Ist es wirklich heilige Musik (musique sacrée), die ich gemacht habe oder am Ende gar vermaledeite Musik (sacrée musique)? Ich bin für die komische Oper geboren, du weißt es wohl! Wenig Kenntnisse, ein wenig Herz, das ist alles. Sei also gepriesen und gewähre mir das Paradies. G. Rossini - Passy 1863.

Warum verweist Rossini auf Kastraten, die armen Opfer eines pervertierten Geschmacks? Sie wurden als Knaben "verschnitten", wie man es umschrieb, um ihre Sopranstimme zu erhalten und später das Publikum in Kirche und Opernhaus durch die besondere Süße ihre Stimmen zu entzücken. Die Ära der Kastraten war aber mittlerweile vorbei. Als junger Mann hatte Rossini den letzten Kastraten auf der Opernbühne, Giovanni Battista Vetulli, kennengelernt und ihm 1813 ein Titelrolle geschrieben. Seitdem gab es sie nur noch in der päpstlichen Kapelle, bis zum Beginn dieses Jahrhunderts. Rossinis Worte lassen sich als Koketterie verstehen, als Selbstdarstellung eines Vertreters einer vergangenen Zeit. In diesem Sinne äußerte er sich häufig, und in der vergangenen Zeit sei natürlich alles bessser gewesen. Sich selbst nannte er gerne recht unbescheiden den "letzten Klassiker". Übrigens sollte Rossini selber in seiner Jugend zur Kastratenkarriere bestimmt werden. Sein Onkel, ein Metzger, hatte sich aber vergeblich dafür eingesetzt.
Natürlich wurde die Messe mit einem normalen gemischten Chor uraufgeführt, am 14. März 1864 im Hause seines Freundes, des Bankiers Graf Michel-Frédéric Pillet-Will, dessen Frau sie gewidmet ist. Anlaß war die Einweihung der Privatkapelle des Freundes. Der Rahmen entsprach den Gepflogenheiten des Salons dieser Epoche. Es gab ein kaltes Buffet, das nach Presseberichten Rossinis würdig war - und das wollte etwas heißen! Dieses Buffet wurde nicht etwa nach dem Ende der Messe gereicht, sondern in der Pause zwischen Gloria und Credo.
Nachdem Rossini jahrzehntelang nicht mehr für die Öffentlichkeit komponiert hatte, war die Uraufführung seines neuen Werkes ein grandioser Erfolg. Nun hätte er die Messe gerne in einer Kirche aufgeführt, aber das war nicht möglich: Noch galt das päpstliche Verbot, was das Auftreten von gemischten Chören in der Kirche anging. Frauen durften nicht mitsingen, Kastraten gab es nicht mehr, Knabenchöre konnte Rossini nicht leiden. So korrespondierte er schließlich mit Papst Pius IX. und bat um die Aufhebung der Enzyklika. Er erhielt eine liebenswürdige Antwort des Papstes, in der dieser aber leider mit keinem Wort auf das Anliegen einging. So blieb es Rossini verwehrt, seine Messe in einer Kirche zu hören.
Die Petite messe solennelle ist in vieler Hinsicht eigentümlich. Das beginnt mit der Begleitung durch Klavier und Harmonium. Das Harmonium war im Pariser Salon weit verbreitet; Rossini kombinierte es mit dem dort ohnehin vorhandenen Flügel. Der profane Salon und das eher sakrale Harmonium paßten im Empfinden der Zeit ohne Bruch zusammen. Später orchestrierte Rossini das Werk, um zu verhindern, daß ihm jemand zuvorkam. Er verbot aber mit Erfolg jede Aufführung dieser Fassung zu Lebzeiten. Will man Rossinis Absichten folgen, muß man also zur ursprünglichen Fassung greifen. Sie wahrt den intimen Charakter der Komposition, in dem sie sich deutlich von seinem anderen großen geistlichen Werk, dem beinahe opernhaften Stabat Mater, abhebt.
Das Meß-Ordinarium wird an zwei Stellen erweitert. Rossini griff dafür auf vorhandene "Alterssünden" zurück. Zwischen Credo und Sanctus schiebt der Komponist ein umfangreiches instrumentales Offertorium ein, Preludio religioso überschrieben. Ob es für Klavier oder Harmonium gedacht ist wird, geht aus dem Autograph nicht ganz eindeutig hervor, da Rossini jedoch exakt den beschränkten Tonumfang des Harmoniums einhält, der in der Klavierstimme ständig überschritten wird, ist zu vermuten, daß hier dieses Instrument vorgesehen war. Nach dem Sanctus folgt das O salutaris hostia. Dieser Text wurde in Frankreich schon zur Zeit der Renaissance als Elevationsmotette während der Wandlung gesungen und war auch noch im 19. Jahrhundert üblich.
Rossinis Beschäftigung mit den alten Meistern in seinen letzten Lebensjahren findet sich im Stil der Komposition wieder. Er, der kontrapunktische Künste seit seiner Lehrzeit nicht leiden konnte und auch auf der Opernbühne verspottete, komponiert hier virtuose Fugen (Cum Sancto Spiritu, Et vitam venturi) und kontrapunktische a-cappella-Sätze (Christe eleison, Sanctus). Im Preludio religioso verweist er auf Bach, im Christe eleison auf die Palestrina-Zeit. In anderen Sätzen ist der Opernkomponist unüberhörbar, so im Agnus Dei, einer Gebetsszene im ergreifenden Wechselgesang zwischen Alt und Chor.
Mit der Petite messe solennelle zieht Rossini ein Fazit seines musikalischen Schaffens. An der Schwelle des Todes schafft der Greis ein Werk, das den Zynismus langer Jahrzehnte hinter sich läßt. Mit heiterer Traurigkeit tritt er vor seinen Schöpfer wie vor sein Publikum: "Ich habe nicht mit Dissonanzen gespart, aber ich habe auch etwas Zucker hinein getan."

JOACHIM RISCH

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